Zusammenhang von Feinmotorik, Sprachentwicklung und Lesefreude
Die festgestellten Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Lesemotivation und Lesefähigkeit legen die Frage nahe, wann und wie in der kindlichen Entwicklung die Grundlagen für Sprach- und Lesefähigkeit und Lesefreude gesetzt werden.
Sprachentwicklung und Leselernprozess
Die Auswertung von Schuleingangsuntersuchungen zeigt, dass Sprachentwicklungsstörungen bei Jungen häufiger als bei Mädchen festgestellt werden. Auffallend ist die Parallelität der Befunde zu motorischen Störungen (einschl. Visumotorik = Fähigkeit das Sehen mit den Bewegungen des eigenen Körpers zu koordinieren), bei denen ebenfalls Jungen quantitativ stärker vertreten sind.
Die psychologische Forschung geht davon aus, dass Motorik und Sprache eng zusammenhängen. "Dies lässt sich bis zum zweiten Lebensjahr sogar als unmittelbarer Zusammenhang nachweisen. Frühzeitiges Erkennen von Defiziten und eine adäquate Therapie sind für die Sprachentwicklung von besonderer Bedeutung, denn nach den hirnphysiologischen Erkenntnissen ist die Entwicklung der betreffenden neuronalen Grundstrukturen mit 5 - 8 Jahren abgeschlossen." Der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen Sprache durch Sprechpraxis entwickelt werden kann, ist damit umrissen.
„Ähnliches gilt für das Lesen (...). Anders als bei den Fähigkeiten Sprechen, Hören oder Sehen besitzt das menschliche Gehirn keine Region, die im Laufe der Entwicklungsgeschichte speziell für die Lesefähigkeit ausgebildet worden wäre. (…) Lesekompetenz entwickelt sich zeitlich gesehen nach einem ähnlichen Muster wie die Sprachkompetenz. Im Verhältnis zum ‚Sprachfenster’ ist das ‚Lesekompetenzfenster’ jedoch länger geöffnet. Es schließt sich erst zwischen dem 13. bis 15. Lebensjahr, dann aber ebenfalls für immer. Das heißt, danach lernen Jugendliche nicht mehr, mit Texten qualifiziert umzugehen, sofern der Grundstock nicht bereits gelegt ist.“
Die neuere Entwicklungspsychologie hat in der Abfolge, wie Kinder sich der Schrift annähern, eine gewisse Gesetzmäßigkeit entdeckt:
Im Lauf ihrer Entwicklung malen und / oder kritzeln Kinder aus ganz verschiedenen Motiven. So kann es sein, dass das Vorbild der Erwachsenen oder der größeren schulpflichtigen Kinder nachgeahmt wird; es kann auch sein, dass ein Kind durch seine Zeichen etwas als sein Eigentum kennzeichnen will. Mit zunehmendem Sachverstand wird es durch sein "Schreiben" bereits eine Mitteilung überbringen wollen. Diese Kritzelbotschaften können von einem Tag zum anderen zuerst noch Verschiedenes beinhalten. So "las" die zweijährige Lisa z. B. ihre gekritzelten Botschaft vor: Da steht: "Liebe Sara, wie geht es dir? Deine Lisa." Auch wenn dasselbe "Schriftstück" am nächsten Tag etwas anderes bezeichnen kann, zeigt das Kind dadurch, dass es verstanden hat: über Geschriebenes kann man etwas mitteilen. Im Laufe der Entwicklung wird sich der Inhalt des Mitgeteilten seiner Form immer mehr anpassen. In Kombination zu bildlichen Darstellungen wird das Kind zusätzlich einzelne Buchstaben in seine Darstellungen übernehmen, bis es schließlich seinen Namen auswendig aufzeichnen kann und womöglich auch andere Wortbilder kopiert. Dabei orientieren sich Kinder meist noch am ganzen Wort, das sie "lesend" wieder erkennen und auch zu schreiben versuchen (vorphonetisches Stadium).
Bei solchen Schreibversuchen und beim Malen trainiert das Kind seine Feinmotorik, es übt und kräftigt ganz nebenbei seine Fingermuskulatur und lernt immer besser, exaktere Zeichen hervorzubringen.
nach: Katrin Müller-Walde: Warum Jungen nicht mehr lesen - und wie wir das ändern können; 2005