Zugänge zur Schreib- und Lesefreude

Will ein Kind in unserem Kulturkreis lesen und schreiben lernen, so muss es zuerst das Wesen und die Funktionsweise unserer Buchstabenschrift verstehen. Chinesische Kinder lernen mehrere Tausend Schriftzeichen auswendig um einfache Texte lesen zu können. Das Erlernen der Alphabetschrift belastet das Gedächtnis weit weniger, weil nur 26 Zeichen (Buchstaben) gelernt werden müssen, mit diesen Zeichen aber alle möglichen Lautkombinationen geschrieben werden können.

Dieses Umsetzen von Lauten aus der gesprochenen Sprache in Schrift stößt aus mehreren Gründen auf Schwierigkeiten:

  • zum einen ist es nicht leicht, aus einem Redefluss oder gesprochenem Wort die einzelnen Laute zu unterscheiden und herauszuhören;
  • zum anderen lässt sich unsere Buchstabenschrift nur in Einzelfällen lauttreu verschriftlichen; solche phonologisch einfachen Wörter sind z. B. Oma, Opa, Mama, Papa, Lego, Hase oder Namen wie Susi, Leo, Tim und Ali...

Kinder, die anfangen, eigene Wörter aufzuschreiben, bedienen sich deshalb oft einer so genannten "Skelettschreibung", das heißt, sie schreiben nur das, was sie wirklich hören, z. B. PP (Puppe), Faged (Fahrgeld).

Alle Kinder haben sich in der Regel schon in der Vorschulzeit mit Details der Schrift auseinandergesetzt und können diese Kenntnisse auch beim Eindringen in die Logik der Schriftsprache (lauttreues Verschriftlichen) verwerten, die umfassende Erfahrung mit Schrift (vielfältiger Umgang, Vorbild der Erwachsenen) ist für sie dabei aber weniger bedeutsam gewesen. Dass Mädchen und Jungen hier Unterschiede aufweisen, könnte darin begründet sein, dass das Vorbild der Erwachsenen geschlechtsspezifisch war (Frauen lesen und schreiben im häuslichen Bereich für Kinder sichtbar mehr). 

Das Lesen spielt nach dem Erkennen des alphabetischen Prinzips unserer Schrift für Jungen und Mädchen eine grundlegende Rolle für alle weiteren Schritte auf dem Weg zur Schriftbeherrschung. Ohne häufiges Lesen ist eine Überformung des alphabetischen Schreibens durch orthografische Kenntnisse und morphematische Einsichten nicht denkbar. Die in der Regel von den Jungen bevorzugte Literatur (z. B. Comics) tritt in der Schule kaum in Erscheinung.

Gleichzeitig wird die Herausbildung des überschauenden und flüssigen Lesens als Fertigkeit begünstigt, wenn die Kinder viel schreiben um die Prinzipien von Lautung und Schreibung verstehen und anzuwenden. Die geschlechtstypischen Unterschiede beim Schreiben von Wörtern lassen vor allem motivationale Effekte auf Jungen und Mädchen plausibel erscheinen, die von der persönlichen Bedeutung der zu schreibenden und zu lesenden Inhalte ausgehen:

  • Wörter, die einem Kind auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrung nahe und vertraut sind, werden häufiger gelesen und geschrieben und bilden damit einen wichtigen Fundus, an dem man orthografische Besonderheiten und übergreifende Regelungen schneller erwirbt als an Wörtern, die man im eigenen Erlebnisbereich seltener findet. Die »eigenen« Wörter sind demnach eine besonders wichtige Quelle für die Ausformung orthografischer Regelvorstellungen.
  • Wenn Schüler/innen Wörter und Texte schreiben, die persönlich vertraut und nahe sind, geben sie sich beim Schreiben mehr Mühe als bei anderen Wörtern. Sie schreiben aufmerksamer, bemerken und korrigieren Fehler eher und fertigen die Produkte auch in formaler Hinsicht lese(r)freundlicher an. Sie nehmen das Schreiben einfach wichtiger als bei Wörtern und Sätzen, die ihnen weniger bedeuten.

Die Untersuchungen zum »geschlechtsspezifischen Lieblingswortschatz« zeigen auf, dass Wörter, die für Jungen die beschriebenen kognitiven und emotionalen Effekte haben, im Übungs- und Schreibwortschatz der Schule kaum eine Rolle spielen.