Unterschiedliche Leseleistungen von Jungen und Mädchen
Die Ursachenvermutungen sind vielfältig. „Lesen ist Teil des Gesamtkomplexes Spracherwerb und Sprachkompetenz." Nach jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Expertin für Spracherwerb Marian Whitehead aus Großbritannien ist Lesen lernen und das Ausbilden von Lesekompetenz an ein hinreichend emotionales Fundament des künftigen Lesers gebunden. ‚Entwickeln von Literacy hat von den frühesten Kindertagen an mit Miteinander zu tun, mit einer festen Bezugsperson im Leben eines Kindes, mit Spaß, Reden, sich Wohlfühlen. Je stärker die emotionale Grundlage, desto größer ist also die Wahrscheinlichkeit, dass Lesekompetenzeigenschaften wie Einfühlungsvermögen oder auch die Fähigkeit zu interpretieren ausgebildet werden. In den ersten drei Lebensjahren wird der emotionale Grundstein für alles, was das Kind später an Herausforderungen zu bewältigen hat, gelegt. Kinder können das, was bis dahin nicht angelegt wurde, später nur unter schwierigeren Bedingungen erwerben.
Auf die Leseleistung von Kindern wirken sich drei Schwerpunkte begünstigend bzw. hemmend aus.
„Lesen ist für Jungen Mädchenkram“ titelte eine Pressemeldung zum Welttag des Buches. Hier liegt ein Grund für die Distanzhaltung von Jungen zum Lesen: die Einführung in die Schriftlichkeit und damit in die Welt der Literatur geschieht in unserer Gesellschaft weitgehend durch Frauen, angefangen von der frühkindlichen Vorlesepraxis über die Erziehung im Kindergarten und das erste Lernen in der Grundschule. Lesen wird von den Kindern als eine weiblich konnotierte kulturelle Praxis erlebt. Für den kleinen Jungen besteht die Entwicklungsaufgabe zur ‚Männlichkeit’ hingegen in der Loslösung von der Mutter. Das Lesen wird von den kleinen Jungen nicht primär verbunden mit der Welt der Jungen und Männer. Lesen – und zumal das Lesen von fiktionaler Literatur – bedeutet die Versuchung zur Regression in die Mutterbeziehung. Die Jungen lassen es darum häufig ganz – oder sie verleugnen es in der Öffentlichkeit.
Darüber hinaus wird in diesem Kontext zwischen der sozialen Herkunft und der erworbenen Lesekompetenz ein enger, fast linearer Zusammenhang wahrgenommen. Die Kinder, deren Lesekompetenz die unterste Stufe nicht überschreiten, stammen überproportional aus sozial benachteiligten Schichten und lesearmer Umgebung. Besonders problematisch ist die Situation von Kindern aus Migrantenfamilien. Fast 50 Prozent dieser Kinder überschreiten noch immer nicht die elementare Lesekompetenzstufe I, obwohl 70 Prozent von ihnen die deutsche Schule bis dahin vollständig durchlaufen haben.
Die Freizeitbeschäftigung mit Computerspielen und Fernsehen ist speziell bei Jungen in den Blickpunkt kritischer Beobachtung gerückt. Neurowissenschaftler gehen von einem Erklärungszusammenhang mit dem irrwitzigen Konsum von interaktiven Spielen und Action-Filmen aus und folgern daraus, dass Jungen Begriffe weniger mit Inhalt zu füllen wissen als früher.
Alle Mediennutzungsstudien der letzten Jahre belegten eindeutig: Computer – und Videospiele sind eine Form geschlechtsspezifischer Mediennutzung. Der Beliebtheit des Lesens bei den Mädchen entspricht die Beliebtheit von Bildschirmspielen bei Jungen, und zwar mit steigender Tendenz. Jungen „projizieren beim Computerspielen das eigene Ich auf eine Figur des Spieles. Beim Computerspiel geht es um Macht, Kontrolle und Herrschaft, also um den nach abendländisch-patriarchalischen Kulturverständnis bekannten ‚Kampf ums Dasein’ und damit um typisch ‚männliche Tugenden’. Die Interaktion der Jungen beschränkt sich auf strategisch und taktisch angemessenes Verhalten, um in der virtuellen Welt zu überleben. Computerspiele fordern keine emotionale Intelligenz, mahnen Psychologen. Der gesamte Bereich der Empathie bleibe ausgespart.